Es war der 19. Juli 2014: Unbedarften Besuchern, die an diesem Nachmittag den Weg nach Lorsch fanden, bot sich ein unerwarteter Anblick: Viel Treiben in der Stadt, jede Menge Kleingruppen, die trotz ordentlicher Hitze durch das Kloster und die unmittelbare Umgebung liefen, angeführt von gut gelaunten Menschen mit Nummernschildern – fast wie in Venedig. Vor der Klostermauer wartete eine noch leere große Bühne auf Gäste – ein Volksfest der besonderen Art? Ja, die Neueröffnung des Welterbeareals war ein Volksfest der besonderen Art.
Für mich war es vor allem ein Tag der Harmonie nach vielen heißen Diskussion, ein Tag, an dem die kritischen Stimmen friedlicher wurden und ihren Blick endlich in die Zukunft richteten. In der sommerlichen Nacht schließlich spürten alle die besondere Atmosphäre, die über dem mit vielen kleinen Lichtern geschmückten Gelände lag – eine Mixtur aus Ruhe, Zufriedenheit und Aufbruch. Wiederkehren wird die Stimmung des Eröffnungstages in dieser Form wohl nicht mehr, allein wegen der nicht mehr existierenden Bäume – sie wurden wenige Woche später nach diesem Ereignis durch einen Sturm hinweggefegt.
Für alle Mitstreiterinnen und Mitstreiter der mehrjährigen Umbauten am Welterbe war es unvergesslicher Tag: Das neue Konzept der Welterbestätte hatte seinen baulichen Abschluss gefunden – zumindest in weiten Teilen. Und wartete jetzt auf den Test in der Praxis. Denn die sichtbaren baulichen Umgestaltungen und Restaurierungen waren lediglich visueller Ausdruck einer Gesamtidee, die hinter der Welterbestätte Kloster Lorsch stand und die sie in die nächsten Jahrzehnte tragen sollte.
Ideen – das wissen wir alle – schweben bei Welterbestätten nicht lose im Raum – sie haben ein Fundament, einen Rahmen, in dem man sich bewegt. Und Kommissionen, die über das Einhalten dieses Rahmen wachen. Das schmeckt nicht jedem, aber das politische Konstrukt „Welterbestätten“ braucht eine gemeinsame Linie, einen vereinigenden Gedanken, in dem sich alle Stätten wiederfinden können.
Anspruch der UNESCO Kommission
Große Organisationen, wie die UNESCO, neigen wie alle solche Organisationen dazu, sehr abstrakte Formulierungen für diese Leitlinien zu wählen. Der Fokus darf nicht zu eng sein, die Vorgaben dürfen möglichst niemanden ausschließen und dennoch nicht beliebig sein. Die berühmte Quadratur des Kreises. Ich will Ihnen die wolkigen Sätze, die solche Deklarationen ausmachen, nicht alle vorlesen. Knapp zusammengefasst handelt es sich bei Welterbestätten um Orte von:
- „besonderer Bedeutung für die Weltgemeinschaft“
- sie dienen der „Globalen Nachhaltigkeitsagenda
- sie fördern den Frieden.
- Um solche Orte zu erhalten, bedarf es des Schutzes – des Denkmals, wie des Naturschutzes,
- Und sie bedürfen der Vermittlung ihrer Bedeutung
Für Lorsch – das war allen Beteiligten klar – lag die anspruchsvollste Aufgabe im letzten der hier genannten Punkte, in der Vermittlung. Denn das Kloster Lorsch bedeutet: Wenig erhaltene Bauten, kein Wiederfinden eines Klosters, wie es den Besuchern vorschwebt, nur Fragmente, sozusagen lauter lose Enden einer ehemals bedeutenden Stätte, die man selbst zu einem Ganzen zusammenfügen muss.
Die Vermittlungsansätze vor den Umbauten folgten zwei Ansätzen: Ganz traditionell bot das Museumszentrum Anschauungsmaterial sowie erklärende Begleittexte. Klassische Besucherführungen vermittelten grundlegende Informationen. Mit der Museumspädagogik schälte sich allerdings ein weiterer, modernerer Ansatz heraus. Doch sie konzentrierte sich mehr oder weniger auf eine Zielgruppe (Kinder), war lokal, maximal regional verankert. Doch barg sie jede Menge Erfahrungen, die das Team an der Welterbstätte seit den 1990-er Jahren sukzessive auswertete und für den Fall der Fälle in der Entwicklung eines „Idealtypes“ der Vermittlung weiterspann. Ein echter Segen!
Denn als 2008 das Bundesbauministerium ein großzügiges Investitionsprogramm für die Welterbenstätten in Deutschland ausschrieb, musste man in Lorsch nicht lange überlegen. Hermann Schefers als Leiter der Welterbestätte und zusammen mit Claudia Götz erfahrener Museumspädagoge griff einfach in die Schublade – und holte seine Unterlagen hervor. So viel Weitsicht wünscht man sich an vielen Stellen!
Vermittlung als Hauptperspektive
Fast alle Menschen orientieren sich bei Stätten der Erinnerung an Gegenständlichem, bei Klosteranlagen an etwas, was entfernt wie ein Kloster aussieht. In Lorsch brauchte man viel Fantasie, um das Kloster „auferstehen“ zu lassen und möglichst eine Führung mit vielen an die Lebenswelt der Besucher anknüpfende Geschichten – darauf achtete das Welterbeteam schon damals. Dennoch: Für die Erschließung der Bedeutung des Klosters fehlten visuelle Ankerpunkte, um Interesse und Neugier zu wecken. Da man das Kloster – aus vielerlei Gründen – nicht aufbauen wollte, musste etwas Anderes an die Stelle des baulich unmittelbar Sichtbaren treten.
Das neue Konzept, das in 2000er- Jahre hier in Lorsch – bereits vor dem genannten Investitionsprogramm – entstand, beschritt neue Weg, einen eher singulären und dem Zeitgeist ein wenig entgegen gerichteten Weg und damit – wie oft erst im Rückblick erkennbaren – ziemlich genialen Weg. Warum?
Der Grundgedanke
Die Neugestaltung des Welterbegeländes sollte sich nicht an statischen, festen Erkenntnissen orientieren, sondern
- das lernende Moment in den Vordergrund rücken und das sowohl
- für den Betreiber, das Team an der Welterbestätte als auch für die Besucher.
Denn das Kloster Lorsch ist und bleibt ein Gegenstand der Forschung. Unabhängig von seiner Bedeutung als mächtiges und spirituelles Zentrum im Mittelalter bleiben viele Fragen zur Entwicklung des Klosters bis heute nicht abschließend beantwortet: Wozu diente die Königshalle, wann wurde sie erbaut (auch wenn man sich hier immer weiter annähert)? wie kann/muss man sich das Kloster räumlich vorstellen? Wie sahen die einzelnen Bauphasen in den Jahrhunderten aus? Welche Rolle spielte das Kloster in seinen Hochzeiten, in weniger guten Zeiten, wie kam es zum Niedergang?
Was für manchen lokalen Fan der Welterbestätte unbefriedigend war, die stetige Neuerung der Erkenntnisse, das Aushalten von Unsicherheiten, mehr Fragen im Kopf zu haben als Antworten, diesen unbefriedigenden Zustand, drehte das Konzept zum Vorteil um.
In den Mittelpunkt rückten dabei drei Aspekte:
- den authentischen Ort sichtbarer, erfahrbarer zu machen und damit die vielen losen Enden aufzuwerten. Unsicherheiten in den Erkenntnissen sollten in ihrem Ungefähren sichtbarer werden und durch einen – durchaus lückenhaften – Weg durch das Welterbeareal miteinander verbunden werden.
- die Orientierung an wissenschaftlichen Methoden. Ganz vereinfacht zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie sich einer Wahrheit, einem Faktum immer nur annähern (können) – insbesondere, wenn die Ausgangslage so lückenhaft ist wie in Lorsch. Die Beteiligten sind gerade dazu aufgerufen, neue Forschungsprojekte zu entwickeln.
- Bildung als elementare Aufgabe einer Welterbestätte zu verankern. Im Lorscher Konzept versteht man Bildung eher als erzählenden Ansatz, immer fundiert und doch verstanden als eine von den Besuchern selbst zu gestaltende Aufgabe. Entsprechende Angebote gab es bereits durch die Museumspädagogik; sie sollten aber unbedingt ausgebaut werden.
Zur Umsetzung dieser Grundgedanken bedurfte es eines neuen Blicks auf das bestehende Klostergelände. Lieb gewordene Anlagen, wie der Hofcharakter des Klosters oder das parkartige Geländeareal musste man aufgeben, um die aktuellen Erkenntnisse zu den historischen Bauelementen sichtbar zu machen und diese, soweit möglich, miteinander zu verbinden. Hinzukamen neue Projekte wie das Freilichtlabor Lauresham, die räumliche Erweiterung der erfolgreichen Museumspädagogik sowie ein Besucherinformationszentrum, um eine moderne Empfangssituation für die Gäste der Welterbestätte zu schaffen.
Nach vielen Diskussionen über die eingereichten Architektenvorschläge machte schließlich der gemeinsame Entwurf der Architektenbüros hg merz, Sicher& Walter sowie der Berliner Landschaftsarchitekten topotek 1 das Rennen. Den drei Büros gelang ein innovativer Masterplan. Der Schlüssel lag wie angedacht in einer Umkehrung der Perspektive: Die Planer dachten die Erschließung des Klosters nicht von der städtischen Seite aus, von der berühmten Königshalle, sondern verorteten sie chronologisch: Das Ursprungskloster Altenmünster, östlich des Klosterhügels sollte der Startpunkt sein. Und sie lösten den gordischen Knoten, Ungefähres, wie beispielsweise die größte Ausdehnung der Klosterkirche oder angrenzender Bauten ohne Aufbauten und ohne Antasten des Bodendenkmals Kloster Lorsch sichtbar zu müssen durch eine Aufschüttung des Geländes und den berühmten Footprint.
Die Erschließung des Klosterkomplexes sollte also die Zeitachse im Blick haben und auf diesem Weg die losen Enden historisch-chronologisch miteinander verknüpfen.
- Den Ausgang bildete fortan das Ursprungskloster Altenmünster, von dem baulich nichts erhalten ist, das aber in seinen Umrissen durch ein Projekt des Heimat- und Kulturvereins in den 1990er Jahren nachempfunden werden konnte und im Rahmen der Umgestaltungsmaßnahmen durch den erwähnten Footprint erweitert wurde.
- Authentisches Demonstrationsobjekt wurde fortan die restaurierte Klostermauer, die bis dato dem Betrachter eher hinter viel Gebüsch an einem großen Parkplatz verborgen blieb.
- Kirchenfragment und Königshalle bildeten als zentrale Bauten weiterhin den baulichen Kern der Welterbestätte, die nicht korrekte Artriumsituation zwischen Königshalle und Kirchenfragment wich einer offenen Lösung, das Kirchenfragment wie die Königshalle wurden restauriert, der Kirchenrest geöffnet.
Footprints ließen nun die Ausdehnung der Ursprungskirche erkennen, gaben Aufschluss über die Lage der Klausur in ihren ungefähren Ausmaßen und vermittelten auf diese Weise unmittelbar die Größe der Anlage. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Weite des Areals.
- In der umgebauten nachklösterliche Zehntscheune entstand ein ungewöhnlicher, mit Lichteffekten arbeitender Ausstellungsraum mit integriertem Depot, in dem die reichlich vorhandenen archäologischen Funde ihren Platz fanden.
- Integraler Bestandteil des Klosterareal wurde auch der Kräutergarten – ein weiteres Projekt des Heimat- und Kulturvereins, das vor allem Adelheid Platte vorangebracht hatte.
- Und schließlich muss das Adalherhaus erwähnt sein – der umgebaute ehemalige Schweinestall, der wenige Jahre zuvor zu einem geschätzten Ort der Museumspädagogik geworden war. Und wieder spreche ich hier von einem Bürgerprojekt, diesmal initiiert vom Kuratorium Welterbe Kloster Lorsch.
Über zwei Wegeachsen erschließen sich nun die einzelnen Bauelemente mit ihren unterschiedlichen didaktischen Zugängen den Besuchern. Vom Altenmünster vorbei an der Tabakscheune, als Relikt der jüngeren Vergangenheit Lorschs, entlang der Klostermauer auf das Welterbeareal mit seinen skizzierend-nachempfundenen und realen Bauten, dem Wissensspeicher Zehntscheune und dem dahinter liegenden Kräutergarten. Aus der Königshalle hinaustretend, lockt der Besuch des Museumszentrums. Anschließend lässt sich entlang der Ausläufer des Areals auf der Rückachse zum Freilichtlabor Lauresham flanieren mit einem Besuch des Besucherinformationszentrum. Ein Rundgang, der den Besuchern an möglichst vielen Punkten freie Sicht auf die Umgebung des Klosters, auf die Bergstraße geben sollte, die so eng mit dem Kloster Lorsch verflochten war.
Mit der Umgestaltung der Welterbeareals, der neuen Wegeführung und den erwähnten Bauten und Nachempfindungen gab es nun auch die Möglichkeit, Führungen zu individualisieren, zu vertiefen und noch dezidierter auf Zielgruppen zuzuschneiden. Denn das „Mittelalter“ war und ist keineswegs nur Neuland für Kinder und Jugendliche – nein auch für viele Erwachsene gibt es neue Aspekte zu entdecken, Zusammenhänge zu erkennen und Verknüpfungen zu vorhandenem Wissen herzustellen, mit denen die Bedeutung des Kloster Lorsch verständlicher wird.
Ich erinnere mich an eine Führung mit Richterinnen und Richtern vom Bundesverfassungsgericht – sicherlich mehr vertraut als andere Gruppen mit Epochen des Mittelalters, mit mancher kunsthistorischen Einordnung. Und dennoch begannen die Augen besonders zu leuchten, als Herr Schefers vor der Königshalle über die Gerichtsbarkeit im Mittelalter sprach, man fühlte sich besonders abgeholt!
Ein Kloster ist keine Insel oder Die Lebenswirklichkeit außerhalb der Klostermauern
Neue Perspektiven auf das Mittelalter bietet auch das Experimentalarchäologische Freilichtlabor Lauresham – eine Idee bzw. ein Projekt, das vor nun mehr als 10 Jahren keinesfalls unstrittig war. Überflüssig, Disneyland, nicht historisch, ablenkend; so nur einige Beschreibungen der Kritiker. Vielleicht lag es auch an dem Wortungetüm, den unbekannten Beschreibungen. Was um Himmelswillen ist ein Freilichtlabor, was bedeutet experimentalarchäologisch? Ein Freilichtmuseum, ja das würde man verstehen, aber dafür bräuchte es ja historisches Baumaterial, wie man es auch anderen Freilichtmuseen kennt.
Claus Kropp und sein Team fochten diese Einwände nicht an. Unermüdlich erklärten sie den Grundgedanken von Lauresham:
- Es handelt sich um einen Nachbau eines karolingischen Herrenhofs als Repräsentant der damals vorherrschenden Grundherrschaft. Ziel ist und war es Siedlungsformen, Gesellschaftsstrukturen, Abhängigkeiten und Bauten anschaulicher zu machen.
- Es gibt Einblick in das Alltagsleben der Menschen, um die Lebenswirklichkeit für uns Nachfahren greifbarer zu machen. Ob Wohnen, Heizen, Kühlen, Ernährung, Gesundheit, Handwerk, Agrarwirtschaft, kulturelles Leben – viele dieser Themen sind zeitlos, regen zum Fragen, Vergleichen an, geben uns eventuell Ideen für die Gegenwart aus einer Zeit, die viel intensiver in Kreisläufen als in Wachstumskurven dachte. Und Lauresham schafft Anknüpfungspunkte, die in kunsthistorischen Betrachtungen nicht immer gegeben sind, aber einen Weg dorthin öffnen können.
- Elementar Bestandteil ist der forschende Ansatz – denn auch zu dieser Thematik gibt es kein abschließendes Wissen. Ganz im Gegenteil: Die Befunde, wie z.B. die berühmten Wölbäcker oder die Spuren hinterlassener Grubenhäusern sind nur beschreibend, nicht selbsterklärend. Und sie können erst erklärend werden, wenn man selbst aktiv wird, zum Baumeister, zur Schmiedin und Weberin oder Bauern wird.
Ohne Ehrenamt geht nichts oder die Rolle der Zivilgesellschaft
Auch die schönsten Konzepte treffen auf Widerstände. Was Fachleuten einleuchtend und (selbst)verständlich erscheint, erschließt sich den Unbeteiligten nicht unbedingt. Kein neues Phänomen und auch in Lorsch war es nicht anders. Vermittlung – so war nach kurzer Zeit 2010/2011 klar – beginnt nicht erst mit der Fertigstellung und Einweihung des neuen Welterbeareals. Sondern bereits in der Bauphase. Besonders, wenn die Umbaumaßnahmen sich nicht nur in Gerüsten um Gebäude und Restaurierungsmaßnahmen an der Klostermauer zeigen. Sondern massiv in die Landschaft und in das städtische Selbstverständnis eingreifen.
Hier kam das Kuratorium als Bürgerverein ins Spiel. Wir hatten recht schnell erkannt, dass eine Kommunikation über die Baumaßnahmen auf schriftlichem Wege, durch Pressebericht, Flyer oder Vorträge nicht ausreichen würden. Es bedurfte eines Gesprächs, längerer Erläuterung am „lebenden Objekt“ und der Möglichkeit Fragen zu stellen. Und so kamen wir auf den Gedanken der „Baustellenführungen“. Sie sollten sich einzelnen Themen widmen, Abstraktes in Konkretes umwandeln, Kritik ernst nehmen und zur Sprache bringen. Der Ansprechpartner, die Ansprechpartnerin sollten Fachleute sein, diejenigen, die für den jeweiligen Bereich verantwortlich waren, ihn von der Idee bis zur Realisierung begleiteten. Denn nur mit fundiertem Fachwissen – das war uns klar – konnte befriedigend erläutert und beantwortet werden. Und zugleich, Bedenken der Bevölkerung besser verstanden und Anregungen aufgenommen werden. In der zweijährigen Bauphhase haben wir 25 solcher Führungen angeboten, Samstags um 12 Uhr, manche thematisch gedoppelt, da die Baufortschritte neue Einsichten gaben.
Erlebt haben wir aufgeschlossene, stets gut vorbereite und motivierte Fachleute, ganz gleich ob sie aus dem Sitz der hessischen Schlösserverwaltung in Bad Homburg anreisten, aus dem Welterbeteam stammten oder aus dem städtischen Umfeld. Und für mich am überraschendsten. Auch die leitenden Verantwortlichen Bürgermeister Christian Schönung und der damalige Direktor von Schlösser und Gärten Karl Weber sowie die Architekten, allen voran Lorenz Dexler von topotek – kamen nach Lorsch, wussten von dieser anspruchsvollen Aufgabe. Selbstverständlich fand ich die Engagements dieser Fachleute an einem freien Samstag nicht.
Zusammenfassend kann man rückblickend sagen: Die Baustellenführungen waren ein großer Erfolg. Aus meiner Sicht aus drei Gründen:
- Sie waren fachlich exzellent, ausgerichtet auf die Zielgruppe, verloren sich nicht in Details, sondern skizzierten die Gesamtsicht.
- Sie überzeugten uns Besucherinnen und Besucher durch die Leidenschaft und das Engagement der Planer. Es waren keine sperrigen Vorträge, es fielen keine wolkigen Worte – man merkte, ihre Ideen waren durchdacht, begründet und nachvollziehbar.
- Es waren offene Gespräche – Ärger konnte vorgetragen werden, Aggression – nicht selten bei solchen Ereignissen – kam kaum auf. Ideen, Kritiken wurden aufgenommen. Sicher nicht für jeden befriedigend – das kann niemals sein.
Und in den Baustellenführungen zeigte sich ungewollt: Der für die Welterbestätte vorgesehene Vermittlungsansatz:
- Vor-Ort-Erläuterungen,
- persönliche Begegnungen,
- Einordnung der behandelnden Themen in ein Ganzes, möglichst anknüpfend an unsere Erfahrungswelt,
- nicht belehrend, sondern lernend, Neugier erzeugend,
- aufs Wiederkommen angelegt,
wurde vorweggenommen.
Manche haben das Kuratorium für die Unterstützung der Welterbestätte kritisiert, uns Lobbyismus vorgeworfen, unerlaubte politische Einflussnahme. Ich kann hier nicht für den Verein sprechen, aber aus meiner Sicht gibt es dazu zwei Gesichtspunkte. Ja, purer Lobbyismus im Ehrenamt ist niemals gut – man darf den reflektierenden Blick nicht verlieren, sich nicht zum willigen Vollstrecker und Abnicker staatlicher Institutionen machen. Wer mich kennt, weiß, dass ich das nicht tue.
Doch, wenn man als Förderverein eines Welterbes erkennt, wie durchdacht das Konzept ist, welches Potential es birgt, für die Welterbestätte, für die Stadt und die ganze Region, wie dieses komplexe und in Verbindungen, in Kooperationen und Vernetzungen denkende Konzept die Welterbestätte als innovative Vermittlungs- und Bildungsstätte leuchten lässt und damit dem Gedanken der UNESCO einer Bedeutungsvermittlung im besten Sinne Rechnung trägt, dann gilt in diese Phase: Das Konzept und die Umgestaltung des Welterbes haben jede Unterstützung verdient. Individuelle Vorlieben– die jeder von uns hat – bleiben einfach einmal ausgeblendet oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Und mit den Baustellenführungen und anderen Veranstaltungen gaben wir Raum für Vermittlung und Teilhabe, zustimmender wie kritischer.
Das Unerwähnte
Neben der unmittelbaren Umgestaltung des Klosterareals dürfen aber viele weitere Projekte in dieser Zeit nicht verloren gehen, die die Perspektive auf das Kloster erweitern und für Bildungsangebote zur Verfügung stehen. Das Kloster Lorsch war ja nicht nur ein eindrucksvolles Bau auf dem Hügel, ein Machtzentrum im Früh- und Hochmittel, sondern auch ein geistliches Zentrum mit einer bedeutenden Klosterbibliothek – einem besonderen Schatz damals wie heute und von großem Wert. Über 500 Codices lagerten in der Bibliothek, darunter das Lorscher Arzneibuch, der Lorscher Codex – und das berühmte Lorscher Evangeliar. Unvergesslich ist mir der Besuch in der vatikanischen Bibliothek, bei dem wir in dem eindrucksvollen Buch blättern duften, uns an den Farben und der wunderbaren Schrift erfreuen konnten. Und die Ausstellung zum Lorscher Evangeliar, die das Buch zurück an ihren Ursprungsort brachte – aber leider nur kurze Zeit.
Schon lange gab es den Plan, die Bibliothek zu digitalisieren. Und in den Jahren 2010-2014 gelang es, diesen Plan umzusetzen. Federführend war die Universitätsbibliothek Heidelberg, die das Projekt mit der Welterbestätte Lorsch und der Verwaltung Schlösser und Gärten auf den Weg brachte und tatsächlich realisierte. Bei einem Streubesitz in aller Welt mit einem Schwerpunkt im Vatikan – kein einfaches Projekt. Heute lassen sich die ca 300 erhaltenen Schriften im Internet betrachten, nicht nur im Original, sondern ergänzt durch viele Erläuterungen.
Das Lorscher Arzneibuch wurde 2013 in das Weltdokumentenerbe aufgenommen – sein Einleitungsteil gibt Aufschluss über die Neubewertung der Medizin in der Zeit Karls des Großen – einer Bewertung, die Krankheit nicht als von Gott gewolltes Schicksal verstand, sondern die Heilung als Akt der christlichen Nächstenliebe und die Anwendung alten medizinischen Wissens zur Behandlung kranken Menschen erlaubte. Ein wirklicher Meilenstein in der Geschichte! Der Kräutergarten mit Heilpflanzen, die im Lorscher Arzneibuch erwähnt sind, ist heute sichtbarer Ausdruck und Lehrgarten dieses Wissens.
Und ja, der Lorscher Codex, in dem so viele Gemeinden mit ihrem Gründungsdatum erwähnt sind, bietet nach wie vor viel Potenzial zur regionalen und überregionalen Kooperation.
Nicht vergessen möchte ich den Pfingstrosengarten und den kleinen Weinberg im Garten der evangelischen Gemeinde, angepflanzt auf dem ehemaligen Klostergelände – auch ein Bürgerprojekt. Auch wenn das Tabakprojekt nicht im direkten Zusammenhang mit dem Welterbe steht, möchte ich es an dieser Stelle erwähnen – denn es zeigt, dass die Umgestaltung des Klosterareals unter Einbezug der Umgebung auch hierfür Raum gibt, Raum für die Kulturgeschichte der Stadt.
Erinnern Sie sich noch: Die UNESCO Richtlinien sahen vor, die Bedeutung der Welterbestätte auch unter einem interkulturellen Ansatz zu verstehen. Ein Ansatz, den ich aus meiner persönlichen Sicht als die schwierigste Aufgabe ansehe. Ja, es gab und gibt Kooperationen mit den UNESCO-Projektschulen, es gibt das Klosternetzwerk mit Kloster Geghard in Armenien, HaeinSa in Südkorea und das Kloster Müstair in der Schweiz. Aber diese Idee mit kontinuierlichen Leben zu füllen, im Sinne einer Kooperation von Welterbestätten scheint mir sehr schwierig. Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen?
Fazit
Die Jahre 2008 bis 2015 haben das Welterbeareal nicht nur baulich sehr verändert – sie haben neue Forschungsräume ermöglicht; thematisch und in Bezug auf neue Kooperationspartner: sie etablierten neue Bildungsangebote aus unterschiedlichen Perspektiven, für unterschiedliche Zielgruppen, institutionelle Gruppen, Schulen, Kindergärten, Ausbildungslehrgänge, für die Bevölkerung aus nah und fern, für den traditionellen Bildungstouristen, für Gruppenreisen. Durch den lernenden Ansatz, das bewusst gesuchte Gespräch mit dem Besucher, den persönlichen Austausch, der in den zurückliegenden Corona-Jahren sicherlich schmerzlich vermisst wurde, bleibt das Kloster ein Ort der wiederkehrenden Begegnung. Jetzt auch immer mehr digital.
Und wie lässt sich meine Ausgangsfrage nun beantworten: Vermittlung ist (fast?) alles – über ein wegweisendes Modell am Kloster Lorsch (2008-2015)
Eine Welterbestätte ist ein authentischer Ort des Erinnerns, es zeigt Baudenkmäler, die viele von uns nach einem Besuch visuell in Kopf und Seele abspeichern. Aber Welterbestätten sind eben nicht nur Orte des Erinnerns, des Bewahrens und der Ästhetik. Es sind Orte, an denen Erkenntnisse wachsen, historische und kulturelle Zusammenhänge deutlich werden. Es sind Orte, an denen Menschen mit breitem, wie tiefem Fachwissen wirken, uns in komplexe Materien eintauchen lassen, ob als Zuhörende oder Mitmachende. Es sind Orte der Bildung. Lorsch ist hier ein leuchtendes Beispiel, vielleicht ein Vorbild, zumindest ein Mutmacher für andere Welterbestätten, den Bildungsauftrag weiter in den Fokus zu rücken.
In Anlehnung an Schopenhauer lässt sich die Frage ganz einfach beantworten:
Vermittlung ist nicht alles, aber ohne Vermittlung ist alles nichts.
Vortrag am 18.11.2021 im Museumszentrum Lorsch