Kompetenzen im digitalen Umfeld – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Auf der diesjährigen Tagung der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Sortiments- und Fachbuchhandlungen (AWS) in Regensburg wurde die Diskussion über die Zusammenarbeit zwischen Verlagen, Handel und Bibliotheken aus dem
letzten Jahr fortgeführt. Während 2011 Allianzlizenzen, ihre Auswirkungen auf den Handel und mögliche Szenarien für zukünftige Erwerbungs- und Medienbearbeitungsprozesse im Mittelpunkt standen, ging es diesmal um die
Frage, welche Kompetenzen erforderlich sind, um digitale Medien anzubieten.

Unterschiede zwischen
Deutschland und den USA
Hintergrund bildeten dazu die Ergebnisse einer Umfrage der AWS zur Entwicklung digitaler Informationsprodukte und –dienstleistungen, die im Herbst 2011 an wissenschaftlichen Bibliotheken durchgeführt worden war. Die
Kernaussagen der Studie verglich Monika Krieg, Director of Publishers Relations bei Harrassowitz in ihrem Vortrag mit den Anforderungen im internationalen Umfeld, speziell in den USA. Sie machte dabei deutlich, dass die Ablösung von Printmedien durch digitale Angebote in den USA weiter fortgeschritten ist. So würden ihre Kunden Journals zu 90% ausschließlich als e-Variante beziehen und auch E-Books seien elementarer Bestandteil des Medienangebots der Bibliotheken. Aufgrund des hohen Kostendrucks und der erheblichen Reduzierung der Bibliotheksetats in den USA gewännen Big Deals Vorrang vor inhaltlichen Fragen zur Zusammensetzung bzw. Flexibilität in der Zusammensetzung von Paketen.
Andererseits erfordern die vielen unterschiedlichen Konsortien in den USA viel Know-how im Abschluss der Lizenzverträge und der Handel sei gefragter Berater beim Vergleich und der Bewertung der unterschiedlichen Lizenzmodelle der
Verlage.

Die AWS Studie zeigt hier ein anderes Bild; danach erwarten die wissenschaftlichen Bibliotheken eine Substitution von Print durch digitale Formate erst in 10 Jahren und für viele Bibliotheken rangieren die Qualität der Daten, das Einhalten technischer Standards und die Möglichkeit, Pakete individuell zusammenzustellen, an oberster Stelle.  Neben den
Unterschieden hob Monika Krieg aber auch einige Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Deutschland hervor, die vor allem im Beschaffungsprozess liegen. So schätzten Bibliotheken diesseits und jenseits des Atlantiks die Vereinfachung der Prozesse durch die Angebote des Handels, sei es in der Auswahl und Beschaffung verlagsübergreifender Produkte oder in der konfektionierten Rechnungsstellung und Zahlungsabwicklung. Auch das Reporting und die dezidierten Nutzungsstatistiken gehörten zu den gefragten Leistungen des Handels.

Open Access als treibender Faktor
Auf Open Access als treibender Faktor für die Veränderung von Leistungsangeboten für alle Akteure der Informationslieferkette wies Cary Bruce, Geschäftsführer von EBSCO hin. Gernot Deinzer, Open Access Beauftragter der Universitätsbibliothek Regensburg hatte zuvor in einem sehr informativen und klar strukturierten Referat die Entwicklung von Open Access und die Varianten für Publikations- und Finanzierungsmodelle anhand von aussagekräftigen Beispielen
vorgestellt. Cary Bruce griff diesen Faden auf und stellte seine Thesen zur Zukunft des akademischen Marktes vor,
wobei er sich auf die Ergebnisse einer Studie von EBSCO stützte. Die Aufgaben der Bibliotheken liegen nach seiner Einschätzung zukünftig stärker in der Zusammenführung aller Quellen, Daten und Publikationen um eine optimale Forschungs- und Lehr-/Lernumgebung zu schaffen. Das Management von Open Access-Publikationen gewinne hierbei an Bedeutung, so Bruce, wobei Agenturen als „Fondverwalter“ Bibliotheken in diesen Aufgaben unterstützen könnten. Generell – so die Einschätzung von Cary Bruce – verlören die klassischen Mittleraufgaben der Agenturen zwischen Verlagen und Bibliotheken im Zuge von Open Access an Bedeutung und würden durch eher technologisch getriebene Mehrwertangebote, wie beispielsweise transaktionsbasierte Zugänge (Patron Driven Aquisition, Metadatenhandling oder den Einsatz von Resource Discovery Tools) ersetzt.

Die Kodakfalle
Mit einer unterhaltsamen Zeitreise durch die Geschichte der Musik, Foto- und Buchbranche unterstrich Rafael Ball, Direktor der Universitätsbibliothek Regensburg anschaulich, wie sich Nutzungsverhalten durch technologischen Wandel verändert. „Vermeidet die Kodakstrategie“, so seine Botschaft. Denn das über Jahrzehnte dominierende Fotounternehmen musste im Januar 2012 Insolvenz anmelden, obwohl mehr als je zuvor fotografiert wird und neben der digitalen Verbreitung auch neue Printangebote zu den Umsatzträgern der Fotobranche gehören. Auf die Informationslieferkette übertragen, sah Ball gute Chancen für Anbieter, die in der Auswahl von Medien durch digitale Angebote, wie Alerting Systeme, Approval Plan und PDA-Systeme punkten und die Anforderungen der Bibliotheken nach flexiblen Erwerbungsmodellen, Monitoringleistungen und nach einfachen, unlimitierten Zugängen erfüllen.

Ertrag und Aufwand im
Handel mit digitalen Medien
Barbara Mahlke, Schweitzer Fachinformationen und für den Vorstand des AWS referierend,  machte deutlich, dass der
Handel bereits viele der Wünsche der Bibliotheken erfüllt, im Alltag 2012 aber nach wie vor das Print Geschäft gegenüber dem Elektronischen dominiert. „Wir bedienen unser Hauptgeschäft – 90% des Umsatz wird mit Printprodukten gemacht
  mit Freude und Ertrag“, so Mahlke,  „die digitalen Dienstleistungen erbringen wir mit Aufwand und Erfolg“. Und stellte damit die  entscheidende Frage an die Adresse der Verlage: Wie werden die Veränderungen im Leistungs-Portfolio der Händler zukünftig honoriert? Statt ausschließlich über den Verkauf und Vermittlung von Content zu sprechen, solle die Dienstleistungskomponente stärker berücksichtigt werden und der entsprechende Handlingsanteil beim Vertrieb und Management von digitalen Angeboten dem Händler zu Gute kommen, schlug Mahlke ihren KollegInnen vor. Dazu müsse aber noch deutlicher kommuniziert werden, welche Leistungen der Handel erbringt, räumte sie gleichzeitig ein.

Einschätzungen von Verlagsseite
Mit der Rolle des Handels in der digitalen Informationslieferkette beschäftigten sich drei Vorträge von Verlagsseite. Während Springer auf eine Kombination aus Direktvertrieb und Verkauf über den Handel setzt, bleiben die mittelständischen Verlage Oldenbourg und Hanser auch beim Vertrieb ihrer E-Book-Angebote bei Bewährtem und forcieren einen 100%igen Vertrieb über den Buchhandel. Klaus Bahmann, Director Library Sales beim Springer Verlag legte eine sehr differenzierte Betrachtung der Chancen des Handels vor und formulierte seine Erwartungen an die Geschäftspartner. „Das Bibliotheksgeschäft läuft nicht nebenbei, sondern fordert eine klare strategische Entscheidung für das Rechnungsgeschäft und den gezielten Einsatz von Verkäufern“, so Bahmanns Appell an den Handel. Gleichzeitig sprach er die Konzentration bei den Handelspartnern an. Nur wenige überregional aufgestellter Händler engagieren sich für den Vertrieb digitaler Medien; mehr wären wünschenswert, um auch die lokale Kenntnis in die Kundenbeziehung einfließen zu lassen.  Ähnlich argumentierten auch Karlheinz Höfner, Vertriebs- und Marketingleiter bei Oldenbourg und Dubravka Hindelang, Vertriebsleiterin Fachbuch bei Hanser, die sich mehr „Offenheit für Technik und Geschäftsmodelle“ und „Vertriebsbereitschaft für das E-Book“ im stationären Sortimentsumfeld wünschten.

Wie mühsam und aufwändig sich auch verlagsseitig der Übergang von print zu digitalen Angeboten gestaltet, demonstrierte Hindelang am Beispiel der Hanser e-library. In sehr offenen Worten berichtete sich über die deutliche
Kritik an den ersten E-Book-Gehversuchen des Hanser Verlags; die Wende kam erst, nachdem der Verlag auf eine professionelle Plattform eines externen Dienstleisters setzte. Innerhalb eines Jahres konnte der Umsatz im
E-Book-Bereich von 1% auf 8% gesteigert werden.

Auch Bahmann sieht den Wachstumsfaktor im E-Bereich und erläuterte die komplexen Leistungen, die Verlage bei der Entwicklung neuer E-Produkten erbringen. Springer verstehe sich dabei weiter primär als Contentlieferant, so
Bahmann, erprobe neue Produktlinien wie enhanced textbooks oder SpringerScore und setze seinen zukünftigen Schwerpunkt auf Datenbanken, wie SpringerImages oder SpringerMaterials. Auf Veränderungen in den Produktionsabläufen, reagiere Springer durch Outsourcen und könne sich dadurch auf die eigenen Kernkompetenzen konzentrieren.

Einen Ausblick auf die Herausforderungen, die Verlage und Handel in der mobilen Welt erwarten, gab Stefan Buhr, stellvertr. Leiter Vertriebsmarketing des Spiegel Verlags. Nach einer Phase des Experimentierens mit  recht ernüchternden Ergebnissen über Zugriffs- und Abozahlen, sähe man sich jetzt auf einem konsolidierten Weg, bei dem auch Bezugsmodelle von mobilen Inhalten für Institutionen auf dem Plan stehen.

Fazit

Mein persönliches Fazit der AWS-Tagung: Als Forum für Themen zum Umgang mit wissenschaftlicher Fachinformation, insbesondere im Hinblick auf deren Integration in eine zukunftsgewandte Forschungs- und Lern-/Lehrumgebung gewinnt die Tagung weiter an Kontur. Um diese komplexe Aufgabe umzusetzen und als aktiver Part in der Informationslieferkette noch in fünf Jahren eine Rolle zu spielen, ist der auf der AWS-Tagung konstruktiv geführte Dialog aller Beteiligten, Bibliotheken, Handel und Verlage die beste Voraussetzung. Nicht zuletzt der kulturelle Programmteil der Tagung – diesmal die Besichtigung der UNESCO Welterbestadt Regensburg und der ungezwungene Austausch – neudeutsch
Social-Networking – am Abend tragen zu diesem Ziel bei.

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