2020 – Die Infektion wird neu entdeckt

Wer sich schon einmal aus historischer Sicht mit Infektionskrankheiten beschäftigt hat, kommt in diesen Zeiten aus dem Staunen nicht heraus. Sars-CoV-2 stellt die Welt auf den Kopf. Medizinisch, gesellschaftlich, politisch. Traumatisierende Bilder aus Norditalien, eine WHO im Alarmmodus veranlassten die Regierungen weltweit zu Maßnahmen, die in ihrer ordnungspolitischen Schärfe sich niemand hätte vorstellen können. Infektionskrankheiten, Epidemien, gar Pandemien kamen bis vor wenigen Monaten im allgemeinen Bewusststein wohlhabender Länder nicht vor – sie gab es, ja, weit weg in Afrika, in Asien aber nicht bei uns. Tuberkulose, Kinderlähmung, Russische Grippe waren Begriffe aus der Vergangenheit der 1950er- und 60er-Jahre, HIV mittlerweile aus dem Fokus verschwunden. Entsprechend schlecht waren viele Länder auf das Thema vorbereitet, materiell, personell, organisatorisch und politisch. In Deutschland trotz einer Bundesbehörde wie dem Robert-Koch-Institut mit dem ausdrücklichen Auftrag epidemiologischen Sachverstand und Erkenntnisse im Falle einer gesundheitlichen Notsituation einzubringen.

Ich möchte dazu beitragen, die Vorgänge der letzten und der kommenden Monate aus einer gesundheitspolitischen Sicht aufzuarbeiten. Denn Vieles ist nicht neu: Im Gegenteil, manche Diskussionen und Aufregungen erinnern an das Ende des 19. Jahrhunderts, an die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik und an die frühen Jahre der Bundesrepublik. Was mich aktuell verblüfft, ist die aufgeregte, kollektive (Neu)entdeckung gefährlicher Infektionskrankheiten, die unreflektierte Wissenschaftsgläubigkeit – und ich bin eine durch und durch überzeugte Wissenschaftlerin –  und der (politische) Glaube an Allheilmittel, wo die heutige, großartige Leistung von Ärzten, Kliniken und medizinischer Forschung darin besteht, die vielfältigen Krankheitsbilder differenziert zu betrachten und zu behandeln.