Virologen, Epidemiologen, Infektiologen, Modellierer – Experten aus Fachdisziplinen, die die meisten bis vor wenigen Monate kaum kannten, bestimmen die Berichterstattung im Coronageschehen. In erstaunlichem Tempo rücken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus hoch spezialisierten Fachgebieten in den medialen Fokus der Pandemiebekämpfung. Man klebt förmlich an ihren Lippen, lauscht ihren Podcasts, ihren Äußerungen in Interviews und Talkshows. Allmählich weicht die Neugier, das kollektive Aufsaugen bisher unbekannter medizinscher und naturwissenschaftlicher Sachverhalte, einer skeptischeren Sicht.
In diesen Tagen steigen die Infektionszahlen in unerwarteter Weise. Die bisher im Rampenlicht stehenden Experten werden stiller. Denn der Umgang mit epidemischen Geschehen ist weitaus komplexer als viele bisher wahrnehmen wollten. Der virologischen Sicht – das Virus durch Vermeidung von Begegnungen „auszuhungern“ – kann ein Epidemiologe nur begrenzt zustimmen. Viren verschwinden nicht einfach; manchmal wie im Fall der Russischen Grippen taucht ein vermeintlich inaktives, nicht mehr existierendes Virus nach Jahrzehnten wieder auf. Und aus Sicht der Infektiologie, der Modellierer gibt es keine eindeutige Erklärung, warum die Infektionszahlen in Gesamteuropa so deutlich steigen. Clusterereignisse spielen eine Rolle, doch erklären sie allein das Verbreitungsgeschehen?
So richtet sich der Blick zum ersten Mal auf eine Fachdisziplin namens „Public Health“ – in unserem Land überwiegend unbekannt, obwohl Deutschlands oberste Gesundheitsbehörde, das Robert Koch Institut, sich als als Public Health Institut bezeichnet. Die Definition der WHO zu „Public Health“ ist einfach wie anspruchsvoll. Public Health dient drei Zielen: a) Krankheiten zu verhindern b) das Leben zu verlängern und c) Gesundheit zu fördern. Public Health gelingt nur in einer Verbindung von Wissenschaft und Praxis und durch gemeinsame organisatorische Anstrengungen. Public Health ist ein interdisziplinärer Auftrag, in den Praktiker und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen – keinesfalls nur naturwissenschaftlicher und medizinischer Disziplinen – ihr Wissen einbringen.Die Bekämpfung von Epidemien, ihre Prävention und die Erzeugung von relevantem Datenmaterial bilden den Kern eines der vielen Aufgabenbereiche von Public Health.
Mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Gesundheitsdienstes gibt es in Deutschland eine Berufsgruppe, die seit vielen Jahrzehnten Public Health betreibt. Eher bescheiden und im Hintergrund, von der Politik weitgehend vergessen. Ihr Wissen ist nun gefragt, ihre Einschätzung – nicht als „Befehlsempfänger“ von Verordnungen, sondern als ordnende und abwägende Hand in einem – für weite Teile der Bevölkerung und der Politiker- unübersichtlichen Geschehen. Die entscheidende Frage aus meiner Sicht ist dabei, welche Institution diese Erfahrungen bündelt, eine Strategie formuliert, regional angemessen und umsetzbar, wie in einer übergreifenden Sicht einheitlich. Es sollte die Rolle des RKI sein, doch die letzten Monate lassen mich daran zweifeln, ob die Bundesbehörde den notwenigen Mut und die erforderliche Nüchternheit aufbringt. Dem RKI wurden seit der Auflösung des Bundesgesundheitsamtes 1994 durch den damaligen Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer immer mehr Aufgaben zugeteilt – auch die Entwicklung zu einem Public Health Institut anstelle eines „Instituts zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten“. Hat es damit umgehen können?
Deutschland hat eine lange Tradition im öffentlichen Gesundheitswesen – wie es sich entwickelte, wie es sich unterscheidet vom angelsächsischen Public Health und wie es sich in der WHO-Definition wieder findet – darüber möchte ich nach und nach berichten.