Der Physikus – Als Public Health noch Volksgesundheit hieß

Wozu Biographien in der Medizinhistorie? 

Biographien öffnen den Zugang zu historischen Themen, zum Verständnis, warum und wie Menschen in ihrer Zeit gedacht und gehandelt haben. Sie verzahnen Wissen über historische Zusammenhänge mit dem Alltagsleben ausgewählter Personen.

Biographien lassen Menschen lebendig werden, in all‘ ihren Facetten, Überzeugungen, Nöten und charakterlichen Eigenschaften.

Biographien helfen, das eigene Leben und heutige, gegenwärtige Situationen einzuordnen. Nicht nur nur in Krisenlagen sind sie von unschätzbarem Wert.

Voraussetzung: Der Autor oder die Autorin nähert sich dem Thema unvoreingenommen, ohne den Anspruch über den Protogonisten zu richten. Und sich dennoch bewusst zu sein, dass jede Darstellung subjektiv ist.

Unter diesen Prämissen habe ich 2016 die Lebensgeschichtes eines bedeutenden Public-Health Spezialisten aufgeschrieben und veröffentlicht. Franz Redeker war ein Universalist – nichts ungewöhnliches in seiner Zeit. Er war praktizierender Arzt, Mediziner, Forscher, Handwerker und Gesundheitsbeamter. Er war ein Urgestein des öffentlichen Gesundheitswesens – ein Bereich , der noch heute eine der drei Säule unseres Gesundheitssystems bildet und bis zu „Corona“ den meisten Menschen unbekannt war. Und er war mein – unbekannter, nun vertrauter – Großvater.

Erweiterter Klappentext: Der Physikus

Öffentliche Gesundheitsaufgaben in der Weimarer Republik
In den 1920er Jahren stehen Gesundheitsfragen hoch im Kurs. Die Aufmerksamkeit von Politik und Ärzteschaft gilt der Volksgesundheit, weniger dem individuellen Wohlbefinden der Bevölkerung. Eine öffentliche Gesundheitsverwaltung  soll die schlechte Gesundheitslage der Bevölkerung verbessern, lebensbedrohliche Krankheiten wie Tuberkulose bekämpfen, Beratung und Unterstützung für Familien bieten und Fürsorgeleistungen aufbauen.
Franz Redeker gehört zu den einflussreichsten Gesundheitsbeamten und Tuberkuloseforschern dieser Zeit.  Als Stadt- und Werksarzt in Mülheim entwickelt er neue kooperative Modelle der Gesundheitsfürsorge, setzt Sozialhygiene, das Credo der Mediziner dieser Zeit, in gesundheits-politische Praxis um.
Zusammen mit dem Heilstättenleiter Georg Simon postuliert er die Lehre vom „Frühinfiltrat“ und schafft damit – aus damaliger Sicht eine einfache Möglichkeit, Tuberkulose im Frühstadium per Röntgendurchleuchtung zu diagnostizieren.

Gesundheitspolitik in der NS-Zeit
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ändern sich die gesundheitspolitischen Ziele grundlegend. Erbbiologische und rassenhygienische Ideologie, Selektion und Ausgrenzung, sowie staatliche Kontrolle bestimmen fortan die Richtlinien des Gesundheitswesens. Redeker bleibt in diesem Umfeld Beamter, wird im Februar 1933 als Medizinaldezernent an das Polizeipräsidium nach Berlin versetzt und bearbeitet die damit verbundenen Verwaltungsaufgaben bis zum Ende des Krieges. Aus der aktiven Tuberkuloseforschung zieht sich der anerkannte Arzt zurück, doch zählt seine Stimme, wenn es darum geht, den immer wieder aufflackernden Versuchen Tuberkulose als Erbkrankheit einzustufen, entgegenzutreten. Im Schatten der Machtkämpfe zwischen den Berliner NS-Größen Julius Lippert, Leonardo Conti und Wolf-Heinrich Graf von Helldorff gelingt es ihm, eine Abteilung aufzubauen, deren Einsatz für viele Einzelschicksale bis zum Ende des Krieges existenzsichernd und lebensrettend wird. Und dennoch bleibt Redeker Beamter eines faschistischen Staates, ein Mediziner, der nationalsozialistische Gesetze ausführt und als Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht in Berlin über Zwangssterilisationen mit entscheidet. Es ist ein schmaler Grat auf dem sich der Arzt bewegt.

Gesundheitsmanagement in Berlin der Nachkriegszeit
Diese Gratwanderung endet auch mit Kriegsende nicht. Von den Alliierten als Stellvertreter Ferdinand Sauerbruchs und später als kommissarischer Leiter des Landesgesundheitsamtes in Berlin eingesetzt, wird Redeker Teil der Auseinandersetzungen über die zukünftige Ausrichtung des Gesundheitswesens in Deutschland.

Seine Geschichte erzählt vom Machtkampf zwischen der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen der Sowjetzone und dem ersten Magistrat der Stadt Berlin. Sie konfrontiert uns mit den Lebensverhältnissen in der zerstörten Stadt, der Bekämpfung von Epidemien unter schwierigen Verhältnissen und den unterschiedlichen Vorstellungen der Alliierten über die Zukunft Deutschlands und den Umgang mit Medizinern im bzw. des NS-Staates.

Neuaufstellung des Öffentlichen Gesundheitswesens in der jungen Bundesrepublik
Nach Gründung der Bundesrepublik wird Redeker unter dem ersten Bundesinnenminister Gustav Heinemann mit der Leitung der Gesundheitsabteilung  in Bonn betraut. Als Repräsentant der vielstimmigen ärztlichen Interessengruppen und in Kombination mit seiner Präsidentschaft im Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose soll er das öffentliche Gesundheitswesen im Konsens mit den Ländern und den Interessen der niedergelassenen Ärzte neu ausrichten – eine schwierige Aufgabe.

Die Einführung der Polioimpfung, die Redeker als erster Präsident des Bundesgesundheitsamtes begleitet, zeigt, wie hart und mühselig zwischen Politik und Ärzteschaft um gesundheitspolitsche Weichenstellungen und Zuständigkeiten gerungen wird.

Eingebettet in die Geschichte des beruflichen Werdegangs ist Redekers persönliche Entwicklung, das private und familiäre Umfeld, das Werte und Einstellungen des Arztes bestimmt.

 

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Rezensionen

Im Vordergrund des Buches steht sicherlich die Biographie Franz Redekers. Gleichwohl steckt in jeder Lebensgeschichte auch ein Stück Zeitgeschichte. So erfährt der Leser viel über die Entwicklung des Öffentlichen Gesundheitswesens in Deutschland – angefangen von der Weimarer Republik über die Zeit im Nationalsozialismus bis in die Nachkriegsjahre hinein. Obwohl hier eine Enkelin schreibt, gelingt es der Autorin doch, sich mit der Denkweise ihres Großvaters – insbesondere in der Zeit der NS-Herrschaft – mit Distanz und Neutralität auseinanderzusetzten.
Die Beschäftigung mit Geschichte wird auch immer grundsätzliche Fragen zur Ethik in der Medizin und im Gesundheitswesen aufwerfen, so dass dieses Buch sicherlich auch zu Diskussionen anregen wird. Für alle historisch Interessierten ist diese Veröffentlichung eine überaus lohnende und zudem spannende Lektüre.

Petra Münstedt in: Blickpunkt Öffentliche Gesundheit – Ausgabe 2/2017 S.6, Akademie für öffentliches Gesundheitswesen, Düsseldorf

Dorothea Redekers  verfasste Biografie ihres Großvaters, des bekannten Tuberkuloseforschers Prof. Dr. Franz Redeker, gibt einen detailreichen Einblick in den Umgang mit der Erkrankung Tuberkulose in der NS-Zeit und Im Nachkriegsdeutschland.
Prof. Dr.  Volker Schulz, 1. Vorsitzender des Deutschen Tuberkulose Archivs in: Pneumologie 2016; 70: 658

Dieses Buch ist zweierlei: zum einen eine persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte; zum anderen eine spannende wie kritische Zeitgeschichte des öffentlichen Gesundheitswesens von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit.

 

Es zeichnet einen Mediziner, dessen Denken und Handeln von der Idee der freien Wissenschaft geprägt ist – und zwar ohne die Fesseln einer politischen Einflussnahme. Redekers Maxime bezieht sich sowohl auf medizinische Erkenntnisse wie organisatorische Herausforderungen in der Gesundheitsfürsorge. Auch seine Rolle in der NS-Zeit kommt ausführlich und kritisch zur Sprache: Die Autorin zeigt einen Arzt und Beamten, der frei von ideologischer Verblendung, aber auch ohne aktive Widerstandshaltung seinen Platz im System akzeptiert und erst spät erkennt, dass wissenschaftlicher Sachverstand und Unabhängigkeit dem Rassenwahn nichts entgegenzusetzen hatten.

 

Dorothea Redekers umfangreiche Arbeit richtet sich an Mediziner wie Historiker und den zeitgeschichtlich interessierten Leser. „Der Physikus“ beschreibt eine berufliche Karriere unter dem Einfluss wechselnder Machtverhältnisse und wegweisender sozialpolitischer Reformbewegungen. Und es berichtet letztlich auch vom Kampf eines Menschen mit sich selbst.

Thomas Tritsch im Bergsträßer Anzeiger vom 12. August 2016

 

Dieses Buch ist in bestem Sinne eine gelungene und hochinteressante Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und der Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens. Sie darf auch getrost als eine kritische Auseinandersetzung mit Individuum und Administration in der Zeit vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Nachkriegsjahre der jungen Bundesrepublik gelesen werden.
transfer.bücher und medien. Dortmund